Komplexität im Projektmanagement und der intelligente Umgang damit

In meinen Projektmanagement Seminaren, die ich regelmäßig, fast wöchentlich, durchführe, höre ich diesen Satz immer wieder: „Das hängt davon ab ...!“ Gerade habe ich die Teilnehmer gefragt, wie lange sie schätzen würden, dass die Aufgabe oder besser: das Arbeitspaket dauert. „Das kann ich nicht sagen, weil ich nicht weiß, ob ..., wieviel, was genau ...“ Die Teilnehmer finden – aus Ihrer Sicht sehr verständlich – immer Vorwände, sich vor dem Schätzen zu drücken. Aber was ist die Alternative?

Nun, zum einen müssen wir im Projektmanagement akzeptieren und verstehen, dass wir die Zukunft versuchen vorweg zu nehmen. Und weil wir nicht ‚wissen’ können, können wir nur über Jahrzehnte etablierte Verfahren und Vorgehen anwenden, um die Zukunft zumindest nicht vollkommen falsch einzuschätzen. Denn die Komplexität von Projekten zu organisieren, bedingt nicht nur ein iteratives Vorgehen, sondern ebenso ein tieferes Verständnis von Komplexität und dem Umgang mit Komplexität, um Ex-post erkennen zu können, ob ein Projekt ‚erfolgreich’ war.

Projektmanagement-Meilensteine ausmachen - Der Versuch, Zukunft zu gestalten

Projektleiter oder Projektleiterinnen stehen immer wieder vor der Aufgabe, zuverlässige Aussagen über die Zukunft zu machen: einen Plan zu haben! Die Stakeholder wollen wissen, ob der Meilenstein erreicht wird, die Projektkollegen, wann genau welches Arbeitspaket abgeschlossen ist, das dann natürlich vollumfänglich und qualitativ hochwertig abgearbeitet wurde. All diese Fragen mit 100%iger Sicherheit zu beantworten, ist nicht möglich. Und das ist auch nicht das Ziel von Projektmanagement, insbesondere der Projektplanung. Das Ziel besteht vielmehr darin, einen Basisplan zu haben, der die Struktur des Projektes etabliert, auf vernünftigen Annahmen basiert und damit eine einigermaßen realistische Möglichkeit darstellt, dass Projekt innerhalb der Parameter erfolgreich abzuarbeiten. Denn in allen Projekten dieser Welt gilt: Je früher ich Aspekte / Wirkfaktoren erkenne, die meinen Projektplan beeinflussen, desto billiger werden die Änderungen im Projekt. Oder anders herum: Wenn ich nicht frühzeitig relevante Faktoren, Anforderungen erkenne, dann kann es teuer werden! Folgende Graphik soll den prinzipiellen Zusammenhang von späten Änderungen und steigenden Kosten von späten Änderungen verdeutlichen.

Grafik steigende Kosten und späte Veränderungen im Projektmanagement

Klaus Grewe antwortete auf die Frage, wie denn die Priorität von Planung in Deutschland durchgesetzt werden kann: „Eigentlich ganz einfach. Es muss sich nur das Denken etablieren, dass ein Teil der Kosten, die durch unnötige Verlängerungen und Störungen von Projekten bei mangelnder Planung entstehen, bereits in die Planung gesteckt werden. Es muss die Bereitschaft herrschen, wesentlich mehr Geld für die Planung zu investieren, auch wenn das ‚teure’ Ergebnis einen Abbruch des Projektes ergibt.“
Anders ausgedrückt mit den Worten der in Berlin geborenen Psychologin Ruth Cohn : „Wenn Du wenig Zeit hast, nimm Dir zu Anfang viel davon!“

Verschiedene Projektmanagement-Phasen: Schätzen und Risikomanagement

Grundsätzlich müssen wir also vernünftige Annahmen treffen über die Zukunft: schätzen! „Ich schätze, dass das neue Verfahren zu über 90 % auf den Prozessen des alten Verfahrens basiert“, sagte neulich eine Workshop Teilnehmerin zu mir. „Ich vermute, dass die Programmierung der Verfahren 8 Wochen in Anspruch nimmt“, sagte eine andere zu mir. Natürlich kann man falsch liegen, daher gibt es vernünftige Schätzverfahren, die sich häufig der Intelligenz der Gruppe bedienen. Schätzen bedingt nur, dass die Menschen, die schätzen sollen auch verstehen, was sie schätzen sollen. Das ist im Projektmanagement alles andere als einfach, denn der Gegenstand des Schätzens, also der Inhalt des Aufgabenpakets, wurde mitunter noch niemals so bearbeitet wie jetzt geplant. Zudem können sich auch vermeintliche Experten bei den Vorhersagen der Zukunft erheblich verschätzen. Eines der bekanntesten Beispiele betrifft den ehemaligen Chef von IBM, Thomas Watson, der im Jahre 1943 meinte, dass es wohl nur einen Markt für 5 Personal Computer gäbe. Knapp daneben.

Im Projektmanagement sind jedoch die wenigsten Arbeitspakete wirklich innovativ. Für die meisten Arbeitspakete kann man auf Erfahrungen zurückgreifen, weil solche oder vergleichbare Tätigkeiten in anderen Projekten bereits durchgeführt wurden. Viel häufiger ist es der Fall, dass die vorliegende Beschreibung des Arbeitspakets zu grob ist und daher verschiedene Teilnehmer des Schätzens vollkommen unterschiedliche Vorstellungen über die Reichweite oder die Größe des Arbeitspakets haben. Daher benutzen intelligente Projektleiter Unterschiede in den Schätzungen durch die einzelnen Teilnehmer natürlich dazu, nachzufragen, welchen Umfang sie denn in den Arbeitspaketen sehen. Und schon führt diese Klärung des Inhalts und Umfangs des Arbeitspakets zu neuen, besseren Schätzungen. Sehr akribisch wird diese Art der Unterschiedsbildung beim Schätzen im Rahmen des Planning Poker beim SCRUM genutzt. Idealerweise diskutiert man dort solange, bis alle die gleichen Schätzungen abgeben können.

Dennoch haben viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Probleme mit dem Schätzen, nicht nur im Öffentlichen Dienst. Wir sind erzogen und groß geworden mit der Unterscheidung ‚richtig’ und ‚falsch’, also einem absoluten Anspruch. Dieser Anspruch basiert auf der irrigen Annahme, dass es einfach Ursache-Wirkungszusammenhänge gebe, die eindeutig und quantitativ bestimmt werden könnten. Tatsächlich ist diese Unterscheidung irreführend, spiegelt quasi Sicherheit vor, wo es keine gibt. Heute würde man vermutlich immer noch sagen, dass die Aussage von Herrn Watson oben falsch war. Dabei war sie nur extrem ungenau, nämlich viel zu gering, geschätzt.

Iteration und Meilensteine: systemische Projektmanagement-Phasen

Dennoch bleiben Restunsicherheiten für die Schätzung von späteren Arbeitspaketen. Wenn ich in meiner detaillierten Planung einen Projektstrukturplan in einen Ablaufplan mit Zeitangaben überführt habe, stelle ich fest, dass manche Arbeitspakete zu Beginn meines Projektes Entscheidungen bedingen, die den späteren Projektverlauf beeinflussen.

Beispiel: In einer Organisation soll ein neues Verfahren zur Zertifizierung von Prozessen oder Produkten etabliert werden. Ein vergleichbares Verfahren existiert bereits. Es ist jedoch unklar, a) ob man Teile des alten Verfahrens übernehmen kann, oder b) ein vollständig neues Verfahren etablieren muss, was ungleich aufwändiger wäre. Ein frühes Arbeitspaket erbringt dann als Output entweder a) oder b).

Um diese Unsicherheit aufzufangen, empfehlen alle Projektmanagement-Vorgehen ein iteratives Vorgehen; also eine Folge von mehreren Schritten, in der immer wieder die gleichen Fragen gestellt werden, deren Beantwortung aber immer detaillierter vorgenommen werden kann. Die Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) nennt daher drei Planungsphasen als erste Projektmanagementphasen: Initiierungsphase, Definitionsphase und Planungsphase. Alle drei Phasen werden als Projektstart im weiteren Sinne verstanden, die jedoch alle den Zweck haben, frühzeitig Festlegungen zu treffen und treffen zu können, um spätere Auswirkungen besser einschätzen und damit planen zu können.

Während am Ende der Initiierungsphase eine erste Skizze des Projektes mit sehr groben Angaben und Überlegungen vorliegt, insbesondere aber die Vereinbarungen und Freistellungen für den Projektmanager geklärt wurden (Projektleitervereinbarung), konkretisieren die Definitionsphase und die Planungsphase die Inhalte und Attribute (Leistung, Kosten, Ressourcen, Termine und Dauer) des Projektes. Es ist immer wieder wichtig zu verstehen, dass am Ende eine Balance zwischen den drei Variablen des sog. Magischen Dreiecks bestehen muss: Leistung, Zeit und Geld. Und diese Logik gilt für jedes noch so kleine oder noch so große Projekt.

Das Prinzip der Iteration bedingt darüber hinaus, dass nach jeder Phase – Planungs- und Durchführungsphasen – ein Meilenstein qua Methode definiert ist, der als Entscheidungspunkt dient: Haben wir durch die vorhergehende Projekt(management)phase die erforderliche Sicherheit, um weiterhin von einem Erfolg des Projektes und einem prognostizierten Nutzen auszugehen? Das ist ein zutiefst systemisches Umgehen mit Komplexität wie auch Georg Angermeier in seiner Erläuterung des Cynefin Framework es beschreibt: probieren (also planen) – beobachten (also überlegen, ob die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Fortsetzung gegeben sind) – reagieren (Entscheidungen treffen und umsetzen).

Priorisierungen helfen Komplexität im Projektmanagement gezielt zu reduzieren

Eine weitere Möglichkeit mit Komplexität umzugehen, besteht natürlich darin, die vermeintlich ‚kritischen’ Erfolgsfaktoren in Projekten zu identifizieren, quasi das Rückgrat des Projektes, das Wesen. Da gibt es viele Untersuchungen zu Erfolgsfaktoren in Projekten, wie a) klare Ziele und Anforderungen, b) gute Kommunikation zwischen den Projektbeteiligten; c) gut qualifizierte Mitarbeiter (inkl. Projektleitung). Dennoch bleiben diese Kriterien schwer zu operationalisieren und damit volatil. Zwei Methoden der Priorisierung in Projekten mit dem Ziel der Komplexitätsreduktion sind die

a) kritische Pfad Methode und
b) die Konzentration auf Engpassressourcen.

Der kritische Pfad in einem Projekt – praktische Erfahrung in den Projektmanagement-Phasen

Der kritische Pfad in einem Projekt meint die Verknüpfung von Arbeitspaketen in der Logik des Projektablaufs, der die Länge des Projektes bestimmt. Es ist also eine zeitorientierte Überlegung diese Aktivitäten im Projekt besonders zu beobachten, weil eine Verzögerung einer dieser Aktivitäten immer auch zu einer Verzögerung des gesamten Projektes führen kann. Bevor man eine Optimierung des Projektplans durchgeführt hat, sind sicherlich nicht mehr als 1/3 der Arbeitspakete in einem Projekt als ‚kritisch’ in genanntem Sinne einzustufen. Auf der anderen Seite kann eine ‚Überoptimierung’ meines Ablaufplans dazu führen, dass eigentlich jeder Pfad meines Projektes ein kritischer ist und auf jedem Pfad dann alle Arbeitspakete kritisch sind. Dann habe ich Komplexität sicherlich nicht reduziert, sondern muss meine Aufmerksamkeit als Projektleiter wiederum auf alle Arbeitspakete richten. Damit ist mir auch nicht geholfen. Hier eine geeignete Balance zu finden ist eine Sache praktischer Erfahrung und operationalen Projektmanagements.

Konzentration auf Engpassressourcen reduziert die Komplexität im Projektmanagement

Die Konzentration auf Engpassressourcen ist ein ähnlicher Ansatz. Er folgt der Annahme, dass ich die Sicherstellung der wichtigsten Ressourcen in meinem Projekt Priorität verfolge, weil alle anderen Ressourcen weniger wichtig, weil ersetzbar oder günstig am Markt zu erhalten sind. Engpassressourcen sind solche Ressourcen, die besonders fachlich nachgefragt sind, z.B. weil sie eine besondere Expertise besitzen, die für das Projektunumgänglich sind. Darüber hinaus gibt es Engpassressourcen, die aufgrund ihrer zeitlichen Verfügbarkeit schwer zu bekommen oder einzuplanen sind.

Beide dargestellten ‚Methoden’ sind Priorisierungsmethoden, die versuchen durch die Identifikation der wichtigsten Aspekte (Zeit oder Ressourcen) die Struktur des Projektes, das Rückgrat, positiv zu beeinflussen. Sie erliegen damit der Annahme, dass die restlichen Arbeitspakete oder Ressourcen weniger kritisch seien. Dies ist jedoch auch eine gefährliche Annahme, wie der aktuelle Zulieferstreit bei Volkswagen zeigt. Obwohl für sich genommen eher kleine Zulieferer, benötigt Volkswagen jede einzelne Komponente, um den VW Golf produzieren zu können. Man sollte also die Bedeutung der nicht-kritischen Arbeitspakete oder Ressourcen nicht unterschätzen.

Zusammenfassung – Verfahren zur Planung von Projektmanagement-Phasen

Am Ende muss ich als Projektmanager aushalten, dass es keine perfekte Lösung für die Planung meines Projektes, also die Planung der Zukunft gibt. Allerdings gibt es etablierte Verfahren und einen umfangreichen Erfahrungsschatz, der nur von vielen Projektverantwortlichen noch nicht gehoben wurde, weil sie bisher nicht die Gelegenheit oder die Verpflichtung hierzu hatten. Zu diesen Verfahren und Prinzipien gehört das iterative Vorgehen in Projekten, die Bereitschaft, anhand von Meilensteinen Entscheidungen zu treffen über das weitere Vorgehen in Projekten. Auch die Priorisierung von z.B. kritischen Arbeitspaketen mit der kritischen Pfad Methode oder die Priorisierung der kritischen Ressourcen können hilfreiche Mittel zu Reduktion von Komplexität sein. Allerdings: Kein Projektleiter und keine Projektleiterin sollte der Versuchung erliegen in dem Versuch der Reduktion von Komplexität die Erlaubnis zu sehen, die anderen Arbeitspakete und Ressourcen außer Acht zu lassen.

Quellenangaben:

ProjektMagazin. Das Fachportal für Projektmanagement, Ausgabe 16/2015, S. 6.

Georg Angermeier in Projekt Magazin. Das Fachportal für Projektmanagement., Glossar>Deutsche Begriffe>Cynefin Framework (abgefragt am 24.08.2016)